Digital Humanism

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Jürgen Habermas hat jüngst eine (erneuerte) Kritik der Öffentlichkeit der Gegenwart vorgelegt. Im Anschluss an seine Theorie der Öffentlichkeit als einem argumentativ strukturierten Mechanismus der Vermittlung zwischen Staatsbürgern und politischer Willensbildung diagnostiziert er einen Niedergang der Qualität des öffentlichen Diskurses durch dessen Fragmentierung. Gemeint ist eine plattformgetriebene Bildung von Echokammern im Netz, die wesentlich Kommunikation personalisiert und nach Ähnlichkeit statt Argumenten sortiert. Hinzu tritt die Zersetzung der Gemeinsamkeit eines übergreifenden konsensuellen Horizonts von Informationen, normativen Standards und Wirklichkeitsannahmen. Diese Gemeinsamkeit wird, folgt man Habermas, durch Fehlinformationen, Lagerbildung und Stimmungen ersetzt (s. ausführlicher unten). Dadurch entgeht wiederum den Bürgern die Gelegenheit, sich qua Beteiligung an einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit zu mündigen Staatsbürgern quasi selbst zu sozialisieren – es entsteht ein Demokratiedefizit und ein Legitimationsdefizit, schließlich ein Verlust an Qualität politischen Entscheidens. Kurz: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungspatriotismus sind in Gefahr.

Diese Kritik bzw. Verfallsdiagnose fußt auf Habermas‘ Theorie der Öffentlichkeit, die er in den 1960er Jahren entwickelt hat. Um die Kritik einordnen und ihrerseits kritisch befragen zu können sind drei Schritte nötig: Eine Rekonstruktion des Ausgangsmodells, sodann ein auch konzeptioneller Nachvollzug der digitalen Transformation nebst ihrer (vermeintlichen) Gefahren und schließlich eine kritische Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur der neu entwickelten Theorie der Öffentlichkeit sowie der Modi subjektiver Beteiligung daran. 

Vom 20.12. bis zum 21.12.2022 wurden diese Fragen im Zuge einer Exkursion zum PARI nach Geisa behandelt. Im Folgenden werden jeweils die Erkenntnisse aus der Diskussion und Konzeptarbeit vorgestellt. 

Öffentlichkeitstheorie nach Habermas
Domke, Christine & Klemm, Matthias (2023). Ebenen der Öffentlichkeit [Design: Barino, Leah], beruhend auf Donges und Jarren (2017), erweitert durch Begriffe nach Domke (2014).

Als Ausgangspunkt wird zunächst die Öffentlichkeitstheorie von Habermas betrachtet. Für die Darstellung verwenden wir ein üblich gewordenes pyramidales Modell. Dieses selbst geht nicht auf Habermas zurück, sondern wird in den Kommunikationswissenschaften verwendet. Dem Modell zufolge wird Kommunikation nach Struktur und Form in verschiedene Ebenen eingeteilt, die nach „Kommunikationsdichte, Organisationskomplexität und Reichweite“[1]differenziert. Hier werden die beiden geläufigen Begriffe Mikro- und Makroebene verwendet und um den Begriff der Mesoebene erweitert, um Kommunikation abzubilden, „die weder der einen noch der anderen Gruppe zuzuordnen sind und Besonderheiten aufweisen, die zwar erwähnt, nicht jedoch systematisiert werden“[2].

Auf der Mikroebene spielt sich vor allem alltägliche Face-to-Face Kommunikation ab, die in der Regel spontan passiert. Auf der Mesoebene finden sich „thematisch zentrierte Interaktions- oder Handlungssysteme“[3], die hier beispielhaft als Begegnungen in Salons, Clubs oder in Kaffeehäusern illustriert sind. (Tatsächlich findet in Habermas‘ Rekonstruktion die moderne Öffentlichkeit ihren Entstehungs- und Kristallisationsort in den südwestdeutschen Kaffeehäusern und in den eigens eingerichteten Salons in den Häusern des wirtschaftlich starken, aber politisch ohnmächtigen, wohlhabend gewordenen Bürgertums.) Auf der Makroebene übernehmen zunächst Zeitungen, später dann Radio- und vor allem Fernsehsendungen die Funktion der Produktion von Nachrichten und Informationen, die dem Kommunikationsschema des one-to-many folgen, die also eine einseitige Kommunikationsrichtung ausweisen. Die Massenkommunikationsmedien strukturieren als Leitmedien Kommunikationsinhalte, arbeiten sie auf und stellen sie der Öffentlichkeit zur Verfügung. Es ist deshalb auch wichtig zu fragen, wie und nach welchen Standards dort, mit Luhmann gesprochen, „Wirklichkeit konstruiert wird“,  Diesen Fragen finden jedoch in Habermas‘ Konzeption keine besondere Berücksichtigung. Vielmehr setzt er eine dadurch erreichte Selektion von Inhalten, die einer Qualitätsprüfung entspricht, voraus, ebenso wie eine intellektuelle Deutungselite, die maßgeblich mitbestimmt, wie in der Öffentlichkeit über bestimmte Themen debattiert wird. Habermas interessiert sich dabei für die diskursive Qualität der Kommunikation im Anschluss an den massenmedial vermittelten Hintergrundkonsens. Diese muss dem Prinzip des zwanglosen Zwangs der Argumente folgen, soll öffentliche Kommunikation politische Entscheidungen treffen können, von denen angenommen werden kann, dass sie a) das Produkt der gesellschaftlichen Deliberation darstellen, also aus einem breiten Willensbildungsprozess heraus getroffen werden; und dass sie b) mit guten Gründen nicht abgelehnt werden können, also auch mit Zustimmung seitens der Herrschaftsunterworfenen rechnen können. Durch die Beteiligung an diesem Prozess erlernen Bürger auch ihre Rolle als Staatsbürger.

Habermas' neue Theorie der Öffentlichkeit
Domke, Christine & Klemm, Matthias (2023). Habermas‘ neue Theorie der Öffentlichkeit [Design: Barino, Leah], in Anlehnung an Habermas (2022).

Im nächsten Schritt wird nun die Veränderung durch die Entstehung und Verbreitung von Inhalten über Soziale Medien in einem neuen Schaubild dargestellt. Nach Habermas entwickelt sich durch die Einführung von Sozialen Medien vor allem „die Gefahr der Fragmentierung in Verbindung mit einer gleichzeitig entgrenzten Öffentlichkeit“[4]. Er befürchtet vor allem mangelnde Kompetenz auf Seiten der Nutzer:innen und betont die weiterhin große Bedeutung der Leitmedien. Als Kritik kann hierbei angeführt werden, dass Habermas von einem Wahrheitspostulat und Dominanzanspruch der Leitmedien ausgeht und diesen so zuspricht, vorgeben zu können, was die Öffentlichkeit zu wissen hat. Außerdem markiert er Soziale Medien vor allem negativ und fokussiert sich auf die scheinbar mangelnde Medienkompetenzen der Bürger:innen. Auch die deutliche Trennung zwischen den Kommunikationsebenen ist wohl zu stark gezogen. 

Neues Modell der Öffentlichkeit
Domke, Christine & Klemm, Matthias (2023). Neues Modell der Öffentlichkeit [Design: Barino, Leah], Grafik entwickelt im Rahmen der Exkursion zum PARI nach Geisa (2022).

Daraus kann ein erweitertes und finales Modell entwickelt werden, welches weiterhin zwischen den bereits bekannten Ebenen unterscheidet, aber im Unterschied zu vorherigen Darstellungen keine scharfen Trennungen mehr aufzeigt. Vielmehr wird hier deutlich, wie sehr sich Kommunikation auf allen Ebenen gegenseitig beeinflusst und Themensetzung nicht mehr nur von der Makroebene aus vorgegeben wird. 

Dieser neue Zustand führt jedoch zu einer Überforderung in der Gesellschaft. Konsequenz dieser Überforderung sind Phänomene wie „Social Heating“, „Hatespeech“ und Desinformation. An dieser Stelle knüpft der Digitale Humanismus an, der das Potential hat, das hohe Maß an Überforderung zu senken, im Idealfall komplett aufzulösen. Grundpfeiler dafür ist die Fähigkeit, Dissens auf allen Ebenen zuzulassen. Damit einher geht das Verständnis, dass Konsens nicht verpflichtend ist. Außerdem muss die Fähigkeit (wieder-)erlernt werden, Meinungen und Personen voneinander zu trennen, sodass eine Meinung nicht gleichbedeutend mit der Identität eines Individuums wird. Hierfür bedarf es einer Diskursfähigkeit, die aktives Zuhören und Nachfragen hervorhebt und Ambiguität tolerieren kann. 


[1] Habermas, J. (1998). Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (1.). Suhrkamp Verlag, S. 449.

[2] Domke, C. (2014). Die Betextung des öffentlichen Raumes: Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen (Wissenschaft und Kunst 26) (1. Aufl.). Universitätsverlag Winter, S. 159.

[3] Donges, P. & Jarren, O. (2017). Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft: Eine Einführung (4. Aufl. 2017). Springer VS, S. 85.

[4] Habermas, J. (2022). Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik (3. Aufl.). Suhrkamp Verlag, S. 47.