Sensationsgeil: Der Kick der Bad News

Eine Glosse

Ich sitze vor dem Arzt. Der Stuhl ist weich gepolstert und im wohl dossierten Abstand stehen Grünpflanzen, die eine gemütliche Wohnzimmer Atmosphäre vermitteln sollen. Trotzdem habe ich feucht, schwitzige Hände und rutsche nervös auf meinem Stuhl hin und her. „Weswegen sind Sie hier?“, fragt der Arzt.

Ich räuspere mich verlegen, dann beginne ich zu erzählen: „Ich bin hier, weil… Immer wenn ich an der Kasse im Supermarkt stehe, da kann ich nicht wiederstehen. Ich versuche meinen Blick auf das Kassenband zu richten und mich auf den Einkauf zu konzentrieren. Aber sie sind überall. Beim Einkaufen lauern sie gestapelt neben der Kasse. Sie springen mich quasi an, ohne dass ich mich wehren könnte.“

„Wen meinen Sie?“

Ich schlucke hart, dann presse ich gehetzt hervor: „Die Schlagzeilen.“

Der Arzt nickt wissend: „Was Sie beschreiben, kenne ich nur zu gut. Wenige Menschen sprechen offen darüber aber doch ist es ein weitverbreitetes Phänomen. Vielen ist es gar nicht bewusst und sie wissen nicht, dass sie es haben. Dabei ist es die meistverbreitete Volkskrankheit. Ach, was sage ich: Weltkrankheit.“ Er musterte mich mitfühlend, als er die Diagnose verkündete: „Sie sind sensationsgeil.“

Symptomatik

Immer wandert der Blick auf die nächste Schlagzeile, bei Zeitungen im Supermarkt, im Fernsehen, im Internet auf dem Handy. Jeden Tag gibt es neues Futter für den unersättlichen Hunger auf: News. Dabei sind es nicht die schönen Nachrichten, die wir massenweise konsumieren, sondern die Bad News. Massaker, Kriege, Unfälle, Mord und Umweltzerstörung. Falls wir dem Angebot mal überdrüssig werden oder es langweilig wird, weil sich die Berichterstattung wiederholt, gibt es ja zum Glück noch den Gossip. Damit beschäftigen wir uns doch liebend gerne.

Was passiert bei unserer Liaison mit der medialen Berichterstattung? Warum triggern uns vor allem schlechte Neuigkeiten an? Entsprechen wir dem Bild einer immer sensationshungrigen Hydra?

Ursachenforschung: Negativity Bias

Hier sind die Good News. Wir können nichts für unsere Sensationsgeilheit. Tatsächlich liegt es in unseren Genen – eine Erbkrankheit sozusagen.

Back to the Roots: Als wir noch Jäger und Sammler waren, war es für uns lebenswichtig negative Veränderungen zu bemerken. Wenn es irgendwo im Gebüsch verräterisch knackte, weil sich ein Raubtier näherte, mussten wir rennen und zwar um unser Leben. Da waren die leckeren Himbeeren völlig egal. Insofern hat sich eine kognitive Präferenz[1] auf Negatives entwickelt: unser Negativity Bias[2].


So kommt es, dass viele von uns bedrohungsfreie Nachrichten wegfiltern und die Aufmerksamkeit vor allem auf bedrohlich wirkende Informationen richten.“

Gestmann

Diese Fokussierung auf Negatives ist aus evolutionspsychologischer Sicht genial, denn sie sicherte unser Überleben. So hat sich der instinktive Überlebensmechanismus[3] durchgesetzt und bestimmt auch heute noch unser Denken und Handeln.


„Schon für die Steinzeitmenschen war es eine Überlebensfrage, rechtzeitig über potenzielle Gefahren informiert zu sein, auch wenn diese Nachrichten damals nicht per Twitter, SMS oder Snapchat kommuniziert wurden.“

Gestmann

Für einen Großteil der Menschheit besteht allerdings heute nicht mehr die Gefahr von Raubtieren angegriffen zu werden. Selbst die scheinbar real existierende Bedrohung eines herumstreunenden Löwen in Berlin, entpuppte sich letztlich als falscher Alarm.[4] Trotzdem sprachen Millionen von Menschen über nichts anderes und überlegten schon im 500 Kilometer entfernten Fulda vorsorglich lieber im Haus zu bleiben. Falls der Löwe nicht auf Berliner steht.

So werden unsere Gefahren heute im Wesentlichen abstrahiert[5]. Anstatt ihnen in unserer Lebensrealität zu begegnen, werden sie uns in den Medien häppchenweise serviert.


„Wir speichern negative Informationen und potentielle Gefahren nicht nur besser ab und reagieren intensiver auf sie, sondern suchen auch mehr danach.“

Urner

Die „3 K“ Regel: Mediales Narrativ einer schlechten Welt

Die „3 K“ Regel: Kinder. Küche. Kirche.[6] Was im 20. Jahrhundert die konservativ patriarchalischen Traditionalisten frohlocken ließ, hat sich heute im medial geprägten 21. Jahrhundert in „Krieg, Krisen und Katastrophen“[7] transformiert. Mit diesen Themen machen die heutigen Medienschaffenden ihre Umsätze, denn sie wissen, dass die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf den Bad News liegt. Die Leser*innen saugen diese negativen Nachrichten förmlich auf. Angezogen von plakativen, im wahrsten Sinne des Wortes „Schlagzeilen“, grapschen die Leser*innen mit einer fast kindlichen Neugierde, gepaart mit einem nach Emotionalität und Sensation gierendem „Ich“ nach den Artikeln und Informationen. Wobei Letztere nachrangig sind. Sie lesen über Intrigen, den Kampf und das Sterben und beenden den Artikel mit einem fast orgasmischen Stöhnen. Dieser Höhepunkt stellt den Kick und den Rausch des Negativen dar. Es ist der Moment, wenn die Leser*innen realisieren, dass die in dem Artikel genannten Personen zwar ihr Hab und Gut und im schlimmsten Fall ihr Leben verloren haben, sie aber gemütlich auf dem Sofa sitzen, am Leben sind und sich nach einer kurzen Pause auf den nächsten sensationsträchtigen Artikel oder Beitrag stürzen können.

Journalistisches Dilemma

Dieses beständige inzwischen schon verselbstständigte, routinierte Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage sorgt für eine kontinuierliche Weiterfütterung der Rezipienten mit Bad News. Falls es zu einer Übersättigung der medialen Konsumenten kommt, so gibt es noch das Mittel der Breaking News[8]. Dieser mediale Überraschungsmoment ist das Junk Food des Journalismus. Meist kochend heiß aber informativ unausgegoren und nährstoffhaltig gleich null. Kurzkettige Kohlenhydrate, die nach einem kurzandauernden Zuckerschock nach mehr verlangen. Und so werden wir versorgt mit einem neuen triefenden Schmodder aus Bad News.


Wie können wir da objektiven, qualitativ hochwertigen Journalismus erwarten? Selbst wenn die Medienschaffenden über etwas Positives berichten möchten, können sie es sich selten leisten, neutral oder ganz und gar positiv zu schreiben. Wir sind also weit weg von den objektiv aufklärerischen Idealen des Journalismus und ganz und gar der gewünscht-berüchtigten Freedom of Speech. Nicht nur durch staatliche Zensur und Political Correctness, sondern auch durch unser Konsumverhalten verwehren wir teilweise den Medienschaffenden und uns selbst eine positive Berichterstattung.

Negative Inhalte, die unsere „Weltuntergangsstimmung“ befeuern, sind willkommen. Aber die positiven Inhalte, Erfolgsstorys und Good News finden in den Mainstreammedien kaum Absatz. Stattdessen scheinen Life Coaches, Meditationsgurus oder Abnehmfirmen alleinige Patente auf Positives zu erheben. So berichten Mitglieder in Testimonials über wunderbare Erfolge.

Werden wir also erst medial von der bösen Welt zerrissen, um dann mit dem Kauf von Produkten wieder mehr Lebenslust zu bekommen? Neben all den Bad News geben wir noch Geld aus, um Lebensratgeber zu kaufen oder an einem Kurs teilzunehmen, indem uns suggeriert wird: „Think positive.“ Du kannst die Welt durch deine Gedanken formen[9].

Es gibt sie bereits, die Nachrichtenflüchtlinge. Die Zahl der sogenannten Represser[10] ist stetig am Steigen, wie die Oxford University festgestellt hat.[11] Diese Personengruppe, die  nur Good News und positive Nachrichteninhalte mag, neigt zur News-Avoidance. Sie haben es durchschaut, denn sie haben gemerkt, dass der übermäßige Konsum von Bad News zu ernsthaften gesundheitlichen und psychischen Problemen führen kann, die im schlimmsten Fall in einer lethargischen Abkapselung vom gesellschaftlichen Leben enden[12].

Happy End?

Liebe Medienschaffende, habt den Mut uns mit Erfolgsstorys und Good News zu füttern, bevor wir alle in einer „narkotischen Dysfunktion“[13] enden oder in eine medienfreie Zone flüchten. Jetzt, nach jahrelangem Konsum der harten Drogen, wo unsere limitatio attentionis,[14] unsere beengte geistige Aufnahmefähigkeit einem abgemagerten Gerippe gleicht, wäre ein kalter Entzug zu heftig.

Stattdessen könnt ihr euch langsam aber stetig dem konstruktiven Journalismus annähern, da er Lösungsvorschläge enthält. Und wer weiß, mit dem dann von euch proklamierten Pragmatismus, können wir vielleicht echt noch was retten – von dieser (wunder)schönen Erde, die unsere Heimat ist.

Literatur

[1] https://www.anti-bias.eu/biaseffekte/negativitaetsbias-wenn-das-glas-halb-leer-ist/

[2] Umer, Maren: https://www.bildung.sachsen.de/blog/index.php/2021/06/30/negative-nachrichtflut-fuehrt-dazu-dass-sich-menschen-nicht-mehr-beteiligen/

[3] https://www.anti-bias.eu/biaseffekte/negativitaetsbias-wenn-das-glas-halb-leer-ist/

[4] https://www.berliner-kurier.de/berlin/loewin-in-berlin-hinter-der-suche-nach-der-raubkatze-steckt-ein-echter-skandal-li.373030

[5] https://www.anti-bias.eu/biaseffekte/negativitaetsbias-wenn-das-glas-halb-leer-ist/

[6] Gestmann, Michael: Medienpsychologie: „Bad news are good news!“ in tv diskurs 76 (2016)

[7] Paletschek, Sylvia: Kinder, Küche, Kirche. in: Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. Beck, München (2001)

[8] https://lampert-nachhaltigkeit.com/only-bad-news-is-good-news/

[9] https://drjoedispenza.com/

[10] Vitouch, Peter: Wieso wir das Schlechte gut finden. Interview. in: Salzburger Nachrichten vom 05.09.2014

[11] Gestmann, Michael: Medienpsychologie: „Bad news are good news!“ in tv diskurs 76 (2016)

[12] Umer, Maren: https://www.bildung.sachsen.de/blog/index.php/2021/06/30/negative-nachrichtflut-fuehrt-dazu-dass-sich-menschen-nicht-mehr-beteiligen/

[13] Lazarsfeld, Paul; Merton, Robert: Mass Communication, Popular Taste and Organized Social Action. in: Bryson, Lyman (Hrsg.): Problems in the Communication of Ideas. New York (1948)

[14] Gestmann, Michael: Medienpsychologie: „Bad news are good news!“ in tv diskurs 76 (2016)

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